Anders sein ist normal

Dr. Rainer Norden, stellvertretender Vorstandsvorsitzender, und Pastor Ulrich Pohl, Vorstandsvorsitzender

Kulturelle und religiöse Vielfalt stehen bei den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel schon seit ihrer Gründung im Mittelpunkt der Stiftungsarbeit. Im Interview sprechen der Bethel-Vorstandsvorsitzende Pastor Ulrich Pohl und der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Dr. Rainer Norden darüber, wie Bethel die Vielfalt weiter fördert – und wie eine wirklich vielfältigere Gesellschaft möglich wird.

„Dass ihr mir niemanden abweist.“ Dieses Credo hatte schon Pastor Friedrich von Bodelschwingh, Gründer der Bethel-Stiftung, seinen Mitarbeitenden vor mehr als 150 Jahren mit auf den Weg gegeben. Heute setzt sich der in Bielefeld beheimatete Stiftungsverbund Bethel als eine der größten diakonischen Einrichtungen Europas für eine vielfältige, inklusive Gesellschaft ein – in der auch die Interessen und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung, psychischen Erkrankungen oder sozialen Schwierigkeiten ihren Platz finden.

Herr Pastor Pohl, Herr Dr. Norden, was bedeutet Vielfalt für Sie bei Ihrer Arbeit mit den Bethel-Stiftungen?

Dr. Norden: Unser Motto ist: „Gemeinschaft verwirklichen“. Und damit meinen wir das Zusammenleben aller Menschen – egal wie sie aussehen, egal wo sie herkommen, ob mit oder ohne Behinderung. Unsere Haltung ist dabei immer: Anders sein ist normal! Das gilt sowohl für unsere Klientinnen und Klienten als auch für unsere Mitarbeitenden, die aus 90 verschiedenen Nationen mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Wurzeln stammen.

Pastor Pohl: Das Thema Vielfalt ist damit Teil des Kerns unserer Arbeit: Wir stehen für die Werte Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Vielfalt.

In der gesellschaftlichen Debatte werden Fragen rund um das Thema Vielfalt aktuell sehr intensiv geführt. Diskriminierende Sprache und Verhalten werden immer weniger akzeptiert. Wie blicken Sie vor dem Hintergrund Ihrer Arbeit in Bethel auf diese Debatten?

Dr. Norden: Dazu muss man sagen, dass es zwei verschiedene Formen der Diskriminierung gibt. Einerseits gibt es offene Diskriminierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen – rund um diese Formen der Diskriminierung drehen sich viele der aktuellen, öffentlich ausgetragenen Konflikte. Die betroffenen Menschen nehmen selbst auch sehr aktiv an diesen Debatten teil und vertreten ihre Positionen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch versteckte Diskriminierung, bei der Betroffene einfach gar nicht miteinbezogen werden, bei der Menschen unsichtbar bleiben. Wir in Bethel kümmern uns zum Beispiel schon lange um Menschen mit Epilepsie, die in der Öffentlichkeit einen Helm tragen müssen und die daher oft ausgegrenzt werden. Oder um schwerst körperlich behinderte Kinder, die zudem auch noch verhaltensauffällig sind.

Pastor Pohl: Ein weiteres Beispiel sind ältere und schwerkranke Menschen, die nicht wissen, wo sie hinsollen, wenn sie ihren letzten Lebensabschnitt antreten. Auch diese Menschen sind Teil unserer Gesellschaft, auch ihre Bedürfnisse müssen wahrgenommen werden. Wir bauen im Moment deshalb unser Hospiz- Angebot aus.

Dr. Norden: Das alles sind Menschen, die in den aktuellen öffentlichen Debatten über Vielfalt eher nicht vorkommen, die dabei keine Stimme haben. Für solche Menschen einzutreten, die an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden, deren Bedürfnisse nicht gesehen und berücksichtigt werden – das ist eine unserer Hauptaufgaben.

„Bei uns ist jeder und jedem bewusst: Anders sein ist normal! Wir wissen: Es ist wichtig, achtsam und respektvoll aufeinander einzugehen.“

Dr. Rainer Norden

Wie tragen die vielfältigen Angebote von Bethel konkret zur Inklusion und Teilhabe dieser Menschen bei?

Dr. Norden: Unser Angebot reicht vom inklusiven Wohnprojekt über unsere neue Kinderklinik und den deutschlandweit ersten Lehrstuhl für Behindertenmedizin an der Universität Bielefeld bis zu unserer bundesweiten Hospizarbeit. Ein herausragendes Beispiel für Inklusion ist auch unser Künstlerhaus Lydda: Dort arbeiten behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen. In Kooperation mit dem Bankverein Werther haben wir dort zuletzt eine große Ausstellung mit dem Titel „Die Wirklichkeit befindet sich außerhalb dieser Fläche“ veranstaltet.

Pastor Pohl: Mit solchen Projekten verschaffen wir Menschen eine Bühne, die sonst in der Öffentlichkeit oft übersehen werden. Wir zeigen, dass ein vielfältiges Zusammenleben eine Chance ist und unter welchen Bedingungen es gelingen kann. Wir setzen uns nicht nur für Menschen mit Einschränkungen ein, sondern lassen zum Beispiel in unserer inklusiven Öffentlichkeitsarbeit behinderte Menschen selbst reden und ihre Standpunkte vertreten.

Wie stellen Sie eine nachhaltige Finanzierung all dieser vielfältigen Projekte sicher?

Dr. Norden: Ein großer Teil unserer Investitionen ist spendenfinanziert. Viele Unternehmen und Institutionen unterstützen unsere Arbeit. Wir haben zudem mit regionalen Finanzinstituten, wie zum Beispiel mit dem Bankverein Werther, eine sehr gute, stabile Partnerschaft aufgebaut. Mit dem Bankverein Werther haben wir beispielsweise ein Wohnprojekt in Bad Lippspringe realisiert. Dort leben Menschen mit und ohne Behinderung zusammen, womit wir gemeinsam mit dem Bankverein Werther einen großen Beitrag zu einer modernen, inklusiven Wohnbebauung leisten konnten.

„Vielfalt ist für uns einer der wichtigsten Werte und ein wichtiger Teil unserer Arbeit.“

Pastor Ulrich Pohl

Wie können wir es schaffen, dass solche inklusiven Projekte nicht mehr die Ausnahme sind, sondern, wie Sie sagen, „ganz normal“ werden?

Pastor Pohl: Ich sehe die gesellschaftliche Entwicklung hin zu mehr Vielfalt generell sehr hoffnungsvoll. In einem Jahr wie diesem, in dem viele Wahlen in Deutschland, Europa und den USA anstehen, sollte man sich aber auch bewusst sein: Diese Vielfalt kann auch wieder eingeschränkt werden, wenn wir uns als Gesellschaft nicht weiter aktiv dafür einsetzen. Wir wollen mit unserer Arbeit unseren Teil dazu beitragen, dass wir die Bewegung zu mehr Vielfalt weiter aufrechterhalten und ausbauen.

Dr. Norden: Wir sind deshalb besonders dankbar für das Engagement unserer Mitarbeitenden, aber auch der vielen ehrenamtlichen Unterstützer und Spender sowie der vielen Unternehmerinnen und Unternehmer hier in unserer Heimatregion, die unsere Arbeit unterstützen. In den aktuell wirtschaftlich angespannten Zeiten ist diese Unterstützung besonders wertvoll.